von S. Luß
Draußen herrschte schneidender Ostwind. Der Schnee war fest gefroren, daß die Schritte der Vorbeigehenden knirschten und pfiffen. Das machte das wohldurchwärmte, ruhige Zimmer umso traulicher und gemütlicher.
In dem großen Korblehnsessel saß Frau Auguste Frey und strickte. Was sie strickte, ließ sich nur in allernächster Nähe erkennen, denn der Lehnstuhl stand in der Ecke, und da war es dunkel, die Lampe über dem Tisch brannte noch nicht. So lange ihr Sohn am Schreibtisch an der ihrem Sessel gerade gegenüberliegenden Ecke schrieb und die Lampe des Wandarms über seinem Schreibtisch brannte, so lange saß sie im Halbdunkel, um die eine Gasflamme zu ersparen. Sie konnte an seinen Bewegungen erraten, was und wie er dachte. Sie kannte jeden Gedanken, jede Herzensregung ihres Sohnes, waren sie doch nun schon seit Jahren, seitdem ihr Mann gestorben, ganz allein aufeinander angewiesen und hatten sich so ineinander hineingelebt, daß sie an seinen Bewegungen seine Gedanken erriet.
Frau Frey wußte, daß sie keine Worte reden durfte, so lange er bei der Arbeit saß; jedes Sprechen störte seinen Gedankengang und den Schwung seiner Phantasie. So gern sie auch sprach und so sehr sie es liebte, gerade mit ihrem Sohn sich zu unterhalten, die Ruhe im Zimmer und selbst das bequeme Schweigen machte ihr Freude, konnte sie doch in solchen Stunden gemütlich sinnen und sich in angenehmen Zukunftsträumen wiegen. Alle Bilder zeigten ihr den Sohn in einem trauten Heime an der Seite der schönen
Frenzie (< Fränzie), umspielt von einem Häuflein lieblicher Kinder. Für sich hatte sie gar keine Wünsche, aber ihren Sohn Jakob, ihren Joggeli, wie sie ihn in ihrem Übermaß der Liebe immer nannte, , sah sie stets als reichen, geachteten Mann, als glücklichen Gatten und Familienvater, und sich selbst sah sie im Traum immer Strümpfchen, Mützchen und Jäckchen stricken für all die schönen Enkelkinderchen. Als Schwiegertochter sah sie immer nur die schöne Frenzie; da konnte ihr Joggeli das große, gute Geschäft zur Hälfte übernehmen, denn das Vermögen und das Geschäft, das der alte Gernauer hinterlassen hatte, gehörte doch zur Hälfte Frenzie, und mit Frenzies Bruder, dem ihr Sohn seine meisten Arbeiten lieferte, war er ja aufs innigste befreundet. Wilhelm leitete nämlich die große Verlagsbuchhandlung und den bedeutenden Zeitungsbetrieb, den der alte Gernauer durch Fleiß und Umsicht geschaffen, und dem befreundeten Wilhelm lieferte ihr Joggeli, der gewandte, beliebte Schriftsteller Jakob Frey, regelmäßig Abhandlungen, kleine Geschichten und auch Erzählungen größeren Umfanges. In ihren Augen war ihr Sohn der bedeutendste Schriftsteller der Welt.
Frenzies Bruder hatte schon oft gesagt, daß er seine Schwester nur einem Mann geben würde, der als Teilhaber das große literarische stützen und heben helfen könnte, warum sollte das nicht ihr Sohn sein? Eignete sich wohl einer besser als ihr Joggeli? Konnte der mit seiner gewandten Feder nicht die Leitung der
Tageszeitung, des Fachblattes und des ganzen Verlages übernehmen? Oh, ihr Joggeli konnte das besser als irgendein anderer, und was die Hauptsache war, die schöne Frenzie liebte ihren Joggeli. Das Auge einer Mutter sieht scharf, auch wenn es nicht so eingenommen ist für die Vorzüge ihres Kindes, wie es Frau Frey war.
Hatte nicht die Frenzie sie schlau ausgefragt, wo ihr Joggeli jeden Nachmittag seinen Erholungsspaziergang machte? Und hatte nicht er ihr nachher erzählt, daß er Frenzie schon einige Male “auf der Waid” begegnet wäre? Oh, das war ja klar, daß sie ihn liebte, sonst wäre sie ihm nicht wie zufällig an seinem Lieblingsplatze begegnet.
Und mit Wilhelm, Frenzies Bruder, war Joggeli eng befreundet, sogar die Väter, der alte Gernauer und ihr verstorbener Mann, waren in ihrer Jugend schon sehr befreundet gewesen. Daß der alte Gernauer nachher so reich wurde, während ihr Mann starb und sie mit ihrem kleinen Sohn ohne Vermögen zurückließ, da konnte doch kein Grund sein gegen sein Eintreten in das Geschäft und die Heirat Frenzie.
Eines störte sie heute in ihren lieblichen Träumen. Sonst schrieb Joggeli so flott und sprach dazwischen auch einmal ein freundlich-heiteres Wort zu ihr, aber heute schrieb er ja keine zwei Zeilen ruhig hintereinander.
“Was hast du nur, Joggeli?” fragte die Frau besorgt.
“Der Teufel sitzt im Tintenfaß, das Hirn ist mir wie ausgebrannt! Ich muß unbedingt für die morgige Nummer eine Weihnachtsgeschichte schreiben, und es will mir kein Gedanke kommen.”
“Wie? Du hast für Gernauer noch nicht die Weihnachtsgeschichte geschrieben?”
“Sonst hätte ich sie dir schon vorgelesen,” sagte er ungeduldig, “das ist mir sehr ärgerlich. Seit mehreren Jahren habe ich Gernauer die Geschichten für Weihnachten, Ostern usw. geschrieben, und sie haben das Lesepublikum so befriedigt, daß Gernauer im festen Vertrauen, daß ich ihm rechtzeitig eine liefere, gar keine Weihnachtsgeschichte angenommen hat. Und nun sitze ich da, morgen ist der 23., und ich habe noch keinen Einfall, der mich selbst befriedigt.”
“Aber Joggeli, das ist doch nicht so schwer, wie reiche Leute im höchsten Drange der Not als Retter bei einem Armen oder Kranken erscheinen, oder wie ein verlorenes Kind nach Jahren wiedergefunden wird, oder wie Gatten untereinander oder Eltern mit Kindern sich aussöhnen, das macht sich immer hübsch und ist rührend.”
“Ach, diese alten abgebrauchten Geschichten sind nicht nach meinem Geschmack.”
“Aber, Joggeli, es ist doch so schön.”
“Mutter,” rief er, “das schlimmste ist, ich glaube selber nicht mehr an diese Güte der Menschen, die ich so oft im guten Glauben geschildert habe. Wo sind sie denn, diese versöhnlichen Menschen? Wo wohnen sie denn, diese edlen Wohltäter der Menschheit, die sich um arme und kranke Personen bekümmern? Lächerlich, sie geben eine Summe, damit sie in der Liste stehen, und wohnen den öffentlichen Bescherungen bei, um sich in ihrem eigenen Spiegelbild als Tugendmuster zu bewundern.”
“Aber, Joggeli, was hast du nur?” rief die Mutter und
legte in ihrem Schrecken gar das Strickzeug aus der Hand.
“Eine Bande von Egoisten und Materialisten ist die Menschheit und selbst die, die wir für die Besten halten, bilden keine Ausnahme, Geldgier und Eigennutz beherrscht die Welt…”
“Du hast doch solche Erfahrungen nicht gemacht, du hast doch nur edle Menschen kennengelernt.”
“Jawohl,” lachte Jakob bitter, “edle Menschen! Ich habe Wilhelm heute um Frenzies Hand gebeten und er hat sie mir mit der schnöden Ausrede, er könne nur über die Hälfte des Vermögens verfügen, versagt.”
Trippel Trappel – wer stürmt denn so die Treppe herauf?
Es klopfte an ihre Tür, und ehe sie herein rufen konnten, wurde sie aufgerissen, und Wilhelm Gernauer stürzte atemlos in das Zimmer. Er stand bleich und aufgeregt an der Tür.
“Jakob,” rief er, aber dann brach er ab, nahm die Brille herunter und putzte sie, da sie im warmen Zimmer ganz angelaufen war.
Es spricht sich nicht gut, wenn man die Leute nicht sehen kann, besonders, wenn man ihnen Wichtiges zu sagen hat.
“Jakob,” fing er nochmals an und schnaufte, “ich habe dir etwas (< ß) zu sagen,” und damit warf er sich atemlos auf einen Sessel.
“Es ist doch im Geschäft kein Unglück geschehen?” fragte Jakob ängstlich.
“Nein, Frenzie –.”
“Um Gottes Willen, es ist doch Frenzie nichts passiert?”
riefen Jakob und seine Mutter zur gleichen Zeit.
“Frenzie passiert? Nein, aber ich weiß jetzt, wem die zweite Hälfte eigentlich gehört. Endlich! Endlich! Ein glücklicher Zufall! Nicht wahr, lieber Freund? Nicht wahr, Frau Frey?”
“Lieber Freund, ich weiß wirklich nicht, was du willst, du mußt dich schon näher erklären,” sagte Jakob.
“Du weißt doch, daß mein Vater häufig sagte, das Geschäft gehöre ihm nur halb, die andere Hälfte habe er nur für einen anderen in Verwahrung. Ich konnte mir das nie erklären, weil mein Vater doch so gewissenhaft war und sicher kein fremdes Gut an sich gerissen hatte. Als er dann vom Schlag gerührt, kurz vor seinem Tode mich an sein Bett gerufen hat, um mir etwas anzuvertrauen, konnte er nur noch die Worte herausbringen: “Halbes Vermögen, Kästchen im Kassenschrank.”
Nach seinem Tode suchte ich in dem bezeichneten Kästchen, konnte aber unter den Papieren nichts finden, was über die Sache Aufklärung hätte geben können, und so litt ich denn die ganzen Jahre unter dem drückenden Gefühl, den Willen meines Vaters nicht ausführen zu können. Da, heute Abend nahm ich wieder das Kästchen zur Hand, um die Papiere noch einmal zu lesen, in der Hoffnung, eine Andeutung zu finden, die mich über die letzten Worte meines Vaters aufklären könnte; da rutscht mir beim Herausnehmen das Kästchen aus der Hand und fällt auf den Boden.”
“Nun und –,” fragte Jakob ungeduldig.
“Mein Schrecken wandelte sich in höchstes Erstaunen,
als ich beim aufheben sah, daß der Deckel sich in zwei Teile geteilt hatte, die nur durch eine Feder aufeinander gedrückt waren. und zwischen den beiden Deckelplatten fand ich diesen Brief. Lies ihn, Jakob, er geht dich so viel an als mich.”
Jakob laß. Nichts regte sich währenddessen im Zimmer. Nach dem Lesen faltete Jakob den Brief bedächtig zusammen und übergab ihn Gernauer mit den Worten: “Das macht deinem Vater Ehre; Es gibt wenig Menschen, die so gewissenhaft gewesen waren, eine Überzeugung, die sie für eine Pflicht halten, ohne daß es ein zwingendes Muß ist, so lange und so innig auf sich wirken zu lassen und namentlich so schwerwiegende praktische Konsequenzen aus einer solchen moralischen, nicht zwingenden Pflicht zu ziehen.”
“Gott sei Dank, daß Du es so auffassest,” rief Gernauer auf. Auch ich denke so, und es hätte mich gekränkt, wenn du anstatt der Anerkennung ein Wort der Entschuldigung für meinen seligen Vater gesprochen hättest; das hätte ausgesehen, als ob du an seinem Verhalten etwas Tadelnswertes gefunden hättest.”
“Wie könntest du glauben – –”
“Also wir sind einig. Morgen beantrage ich die amtliche Feststellung der Sache, und du kannst sie jetzt schon als ausgefertigt ansehen und danach verfügen.”
Damit stand Gernauer auf und drückte Jakob Frey die Hand. Als er sich dann auch zu Frau Frey hinbegab und ihr gerührt die Hand reichte mit den Worten: “Nicht wahr, Frau Frey, ihnen ist es doch auch recht?” Da hatte es mit der Geduld der guten Frau ein Ende.
“Aber ich weiß ja gar nicht, wovon sie sprechen; was geht denn eigentlich vor?”
“In diesem Schreiben teilt mir mein Vater seligen Andenkens mit, daß er die 10000, welche er seiner Zeit als Anzahlung für das Geschäft brauchte, in der Lotterie gewonnen hat. Nun hat er mit ihrem seligen Mann mehrmals verabredet, daß sie einmal zusammen ein Los nehmen wollten. Dies hatte er vergessen, und es fiel im erst wieder ein, als der Gewinn gemacht war. Er machte sich im Stillen darüber Vorwürfe, daß er seinen Freund durch die Verheimlichung des Loserwerbs benachteiligt hatte, besonders als das Geschäft, das er gekauft, sein gewonnenes Vermögen so rasch anwachsen ließ.”
“Aber das Vermögen gehört ihnen doch nun einmal,” unterbrach Frau Frey.
“Ganz recht, Frau Frey, aber mein Vater hat in diesem Schriftstück angeordnet, daß ihr Sohn Jakob die Hälfte des Geschäftes und des Vermögens haben solle, wenn er Frenzie zur Frau nähme, andernfalls solle ihm die Hälfte des damaligen Gewinnes mit Zins und Zinseszins ausgezahlt werden.”
“Großer Gott,” rief die Frau ganz verwirrt, “aber Frenzie – – –”
“Und ich,” fuhr Gernauer fort, ohne die Unterbrechung zu beachten, “habe Jakob noch heute Mittag, als er mich um Frenzies Hand bat, meine Einwilligung versagt, weil ich mich an meines seligen Vaters Worte hielt, die Hälfte seines Vermögens gehöre einem anderen.”
“Aber wird Frenzie wollen?” fragte Frau Frey ängstlich.
“Was das anbetrifft,” sagte Gernauer lachend, “da fragen sie nur ihren Schwerenöter von Sohn.”
“Und wegen der Absage konnte er den Nachmittag nicht schreiben; er zweifelte an der ganzen Menschheit.”
“Ich widerrufe, Mutter, und meine eigene Geschichte und Erfahrung von heute will ich als Weihnachtsgeschichte schreiben.”
“Das tu, lieber Joggeli, und vergiß nicht, recht schön das Glück auszumalen, das uns alle morgen Abend unter dem brennenden Baum erfüllen wird!”